ALEXANDROS KAROZAS
Gedanken zu Konstantin Kavafis I Der „Mythos“ Kavafis setzt sich aus folgenden Ingredienzien zusammen: 1. Konstantin Kavafis hat zeitlebens kein Buch veröffentlicht und nur 154 Gedichte als Opus hinterlassen, abgesehen von etwa zwanzig anderen, in seiner Jugend veröffentlichten lyrischen Texten, deren Autorenschaft er leugnete. 2. Einige stellten die These auf, dass Kavafis die griechische Literatur vor allem deshalb erneuern konnte, weil er niemals in Griechenland gelebt hat. 3. Kavafis war homosexuell und hat – was einige Kavafologen behaupten und andere bestreiten – darunter gelitten. Auch gibt es diesbezüglich die These, Kavafis sei nicht in Wirklichkeit homosexuell gewesen, sondern nur im Geiste usw. usf. 4. Kavafis war ein Dichter des introvertierten „geschlossenen Raums“, der „Bibliothek“, was im Gegensatz steht zur „Extrovertiertheit“ seiner griechischen Dichterkollegen. Das galt sowohl für den Ton als auch für die Thematik seiner Lyrik. Allerdings ist der wesentlichste Grund dafür, dass es diesen „Mythos“ Kavafis gibt, folgender: Kavafis war ein sehr guter Autor. Und obwohl Kavafis’ Beschränkung auf die bekannten 154 Gedichte tatsächlich Programm war und geholfen hat, des Autors eigentliche Intention deutlich zu machen, haben die in den letzten 60 Jahren nach und nach veröffentlichten Nachlass-Texte von Kavafis (die ich weiter unten anführe) den Ruhm des Autors und damit auch den Mythos „Kavafis“ nur noch mehr gefestigt. II Kurz vor seinem Tod bemerkte Kavafis: „Zwei Dinge hätte ich machen können: Gedichte und ein Geschichtsbuch. Das Geschichtsbuch habe ich nicht geschrieben, und nun ist es zu spät“. Der das sagte, hinterließ ein poetisches Werk, das – bestehend aus den oben bereits erwähnten 154 von ihm selbst veröffentlichten Gedichten – wie kaum ein anderes die griechische Moderne tief beeinflusst hat. Konstantin Kavafis, der als achtes Kind eines reichen Großhändlers am 29.April 1863 geboren wurde und auf den Tag genau siebzig Jahre später, am 29.April 1933, starb, brachte – in seiner Eigenschaft als Dichter K.P.Kavafis, wie er etwa seit seinem vierzigsten Lebensjahr an die Öffentlichkeit trat – einen neuen „sachlichen“ Ton in die griechische Lyrik ein. Zu einer Zeit des in Griechenland vorherrschenden Symbolismus mit den sprachgewaltigen Bildern eines Angelos Sikelianos (1884-1951) oder der blumigen Poesie des vom demotischen Lied tief beeinflussten Kostas Kristalis (1868-1894) oder den hehren Wortkaskaden des schon zu Lebzeiten als ein unantastbarer Klassiker verehrten Kostis Palamas (1859-1943), entwickelte Kavafis eine karge, epigrammatische Sprache, die Ausdruck einer prosaischen, da pessimistischen Weltsicht war. Kavafis sah in der Gegenwart den Schlusspunkt eines fatalen Geschichtsverlaufs: Der Niedergang des in seinen Strukturen verfaulten Hellenismus der vorchristlichen Zeit diente Kavafis als poetische Metapher für das im 19.Jahrhundert – nach vierhundertjähriger osmanischer Okkupation – krankgeborene moderne Griechentum. Seltsam genug: Kavafis tritt, nur wenige Jahrzehnte nach der Gründung des neugriechischen Staates im Jahre 1829, in seinen Gedichten als Chronist einer Endzeit auf. Und die „Trojaner“ eines jeden belagerten Troja, wie die im gleichnamigen Gedicht von 1900, tragen, obwohl noch im Kampf, das Wissen um ihre endgültige Vernichtung mit sich herum: „Aber das Verderben ist uns gewiss. / Dort oben, auf den Mauern stimmen sie schon die Totenklagen an.“ Kavafis studiert griechische, römische und byzantinische Geschichtsbücher und beschreibt in kurzen poetischen Skizzen – als würde sich dieser Prozess gerade vollziehen – den Untergang der Diadochenreiche Alexanders des Großen, den Sieg der Römer über die Griechen. Apokalyptische Bilder aus dem byzantinischen Reich. Für einen griechischen Intellektuellen um die Jahrhundertwende keine ungewöhnlichen Assoziationen, möchte man heute meinen. Doch dem war nicht so. Eher beherrschten die heroischen Taten der griechischen Stadtstaaten im Kampf gegen die Perser, so der Kampf des Spartanerkönigs Leonidas bei den Thermopylen, und die klassischen Meisterwerke, etwa die der drei Tragiker Euripides, Sophokles, Aischylos, die Bilderwelt der neugriechischen Literatur nach der Revolution von 1821. Fast alle Schriftsteller verstanden sich als geistige Verfechter der nationalen Wiedergeburt. Die Aussparung der klassischen Antike in seinen „historischen“ Gedichten, die das Gros seines poetisches Werkes ausmachen, ging bei Kavafis einher mit einer großen Wachheit für aktuelle Ereignisse und einem unnachgiebigen Skeptizismus: Die Gedichte „Krieger für den achäischen Bund“ (1922), „Die Schlacht von Magnesia“ (1913), „Zu Antiochos Epiphanes“ (1911) und viele andere beschwören den Untergang der Nation, sie „beginnen schon die Totenklagen“ im Augenblick der nationalen Euphorie. Kavafis schuf sein reifes Werk in einer Zeit großer kriegerischer Auseinandersetzungen, die von seinen Dichterkollegen stürmisch begrüßt bzw. patriotisch besungen wurden: 1897 der Kampf um Kreta und die Niederlage Griechenlands gegen die türkischen Truppen, 1903 bis 1908 die militärischen Operationen in Makedonien, 1909 die revolutionäre Bewegung auf Kreta, 1912 bis 1913 die Balkankriege, 1915 bis 1918 die Teilnahme Griechenlands am 1.Weltkrieg und schließlich 1922 die Kleinasiatische Katastrophe mit ihren verheerenden Folgen und dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. Vielleicht half ihm die „Ferne“ Alexandriens, solche, in der griechischen Literatur unerhörten, Gedichte wie „Wartend auf die Barbaren“ (1904) zu schreiben oder folgende, im Heimatland kaum denkbare, Antinomie im Gedicht „Der Darios“ (1917) zu begründen: „Im Krieg – stell dir vor!, griechische Gedichte.“ Denn im griechischen Mutterland hätte man viel eher ausgerufen: „Im Krieg – jetzt erst recht!, griechische Gedichte.“ und sich vielleicht an die „Perser“ von Aischylos erinnert. So setzt Kavafis oftmals gegen den rhetorischen Wortschwall seiner griechischen Dichterkollegen die Lapidarität „historischer Kommentare“, eine Methode, die die distanzierte Haltung zum poetischen Geschehen in gesteigerter Intensität zum Ausdruck bringt, da jede emotionale Anteilnahme unterdrückt wird oder aber kurios wirkt. Giorgos Seferis (1900-1971), der erste griechische Literaturnobelpreisträger, nannte Kavafis in einem seiner vielen Essays über den „Alexandriner“ einen „proteischen Dichter“ – in Anlehnung an Proteus aus der antiken Sage, den alten Meergreis, der sich in verschiedene Wesen verwandeln konnte: Kavafis, der am liebsten Historiker hätte werden wollen, der durch diese Wendung nach innen, durch das intensive Er-Leben – ähnlich wie wir es bei dem bedeutenden argentinischen Schriftsteller J.L.Borges wahrnehmen – der aus Büchern erfahrenen Geschichte des Griechentums sich die Fähigkeit des Hineinschlüpfens in andere geschichtliche Persönlichkeiten, wirkliche und imaginäre, erworben hatte. Diese Kavafissche Methode, die Gegenwart durch die Brille der Vergangenheit zu betrachten und diese verfremdet, nämlich gewissermaßen als allzeit gültig zu beschreiben, bezeichnete Seferis in Anlehnung an den Dichter T.S.Eliot als „historischen Sinn“, der dem Dichter ermögliche, sich selbst und seine Epoche ins Gedicht mit einzubringen. Die Lakonie seiner Poetik übertrug Kavafis sehr konsequent auch auf seine Selbstdarstellung als Künstler. Folgende biographische Notiz gab er 1924 einer Athener Zeitschrift, die ihn dem griechischen Publikum vorstellen wollte: „Ich stamme aus Konstantinopel, wurde aber in Alexandria geboren – in einem Haus auf der Serif- Straße; bald danach verließ meine Familie diese Stadt, und ich verbrachte ein Gutteil meiner Kindheit in England. Dieses Land besuchte ich viel später noch einmal, doch nur für kurze Zeit. Wir haben auch in Frankreich gewohnt. In meiner Jugend lebte ich länger als zwei Jahre in Konstantinopel. In Griechenland bin ich schon sehr lange nicht mehr gewesen. In letzter Zeit arbeitete ich als Beamter im Büro des Ägyptischen Ministeriums für öffentliche Bauten. Ich spreche Englisch, Französisch und ein wenig Italienisch.“ III Folgende Editionen mit Texten von Konstantin Kavafis erschienen nach seinem Tod: - Prosa, also Essays, Buchkritiken, Notate, Erzählungen, Kolumnen – die meisten davon sind versammelt in drei Bänden („Unveröffentlichte Prosa“ 1963, „Prosa“ 1963, „Unveröffentlichte Notate“ 1983), viele andere kürzere Prosastücke wurden in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. - „Unveröffentlichte Gedichte“ (1968): 78 von Kavafis vollendete und der Nachwelt willentlich hinterlassene Gedichte. - „Verworfene Gedichte“ (1983): 23 von Kavafis in seiner Jugend in Zeitschriften Alexandriens veröffentlichte und später verleugnete Texte. - „Notizen aus der Genealogie von Kavafis“ (1983): Texte zu seinen Vorfahren und seiner Familie (zusammengestellt und editiert von Vangelis Karajannis). - „Unfertige Gedichte“ (1996): 30 Gedichte, die mehr oder weniger ausgearbeitet waren und die von der Literaturwissenschaftlerin Renata Lavagnini rekonstruiert wurden. Bedeutend ist, dass sie fast ausschließlich aus dem letzten Jahrzehnt seines Schaffens stammen und dass es Texte sind, die Kavafis hatte unbedingt zu Ende schreiben wollen. Diese Editionen runden das Bild vom Dichter und Menschen Kavafis weitestgehend ab. Und Georgios Savidis, dem bedeutendsten Kavafologen zufolge, ist aus dem Archiv kaum etwas Neues in größerem Umfang zu erwarten. Ab jetzt bleibt es also dem Leser vorbehalten, sich sein eigenes Kavafis-Bild zu machen bzw. dem „Mythos“ Kavafis in seiner Unergründbarkeit nachzuspüren. Hier die auf deutsch veröffentlichten Texte aus dem Nachlass von Konstantin Kavafis: - Konstantin Kavafis. Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit. Notate zu Moral und Literatur, Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas; Hanser-Verlag, München 1991 - Konstantin Kavafis. Die vier Wände meines Zimmers, Verworfene und unveröffentlichte Gedichte, Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übertragen von Ina und Asteris Kutulas; Hanser-Verlag, München 1994 - Konstantin Kavafis, Familie Kavafis, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übertragen von Asteris und Ina Kutulas, Dielmann Verlag, Frankfurt am Main 2002 - Im Frühjahrsheft 2013 der Zeitschrift „die horen“ erscheint erstmals eine Auswahl aus den „Reisetagbüchern“ (1901) und den „Unfertigen Gedichten“ von Kavafis In meiner letzten Kavafis-Publikation „Familie Kavafis“ habe ich aus dem teilweise ungeordneten Material der Karajannis-Studie eine Auswahl getroffen und sie für eine deutsche Veröffentlichung in eine mir günstig scheinende Reihenfolge gebracht. Mir ging es darum, die Zeugnisse der wunderbaren Passion des Dichters – nach seinen Wurzeln zu suchen – dem Leser zugänglich zu machen. Hier daraus seine Ausführungen über seine Mutter: „Chariklia Fotiadis-Kavafis wurde 1835 in Genikioi geboren und heiratete mit 14 Jahren. Die ersten beiden Jahre ihrer Ehe verbrachte sie in Konstantinopel im Haus ihrer Schwiegermutter. Dieser Aufenthalt dort war für die junge Braut nicht sehr angenehm. 1852 zog sie zusammen mit ihrem Ehemann nach England. Zuvor wohnten die beiden aber längere Zeit in Paris, was die junge Frau sehr beeinflusste, die bis dahin nichts von der Welt gekannt hatte außer den Ort Peran. Sie und ihr Mann blieben einige Monate in London. In Liverpool wohnten sie dann in der Bedford Street. Sie lebten ruhig und zurückgezogen, keinesfalls entsprechend den Bedürfnissen einer 18jährigen. Chariklia schloss nur wenige Bekanntschaften, wovon die engsten die mit Frau Skilitsis und Frau Rallis waren. Petros Ioanis engagierte Lehrer für seine Frau, die Französisch, Englisch und Zeichnen lernte. 1854 oder 1855 ging sie mit ihrem Ehemann nach Alexandria, eine Stadt, die sich gerade zu entwickeln begann. Es gab erst wenige Europäer dort. Die griechische Gemeinde war damals schon die größte, und sie ist es noch heute. Damals zählte sie noch keine 3.000 Mitglieder. Jetzt, 1903, hat sie mehr als 30.000. Das Leben der Stadt konzentrierte sich in der Gegend um den Großen Platz... In Alexandria ging es recht munter zu, zumal die meisten Neuankömmlinge erfolgreiche Börsianer und Händler waren. Tanzveranstaltungen und Bankette waren an der Tagesordnung. Chariklia Kavafis hatte ihren Einstand auf dem großen Ball von Herrn Pastres ... Die Abkömmlinge dieser Familie – jetzt Comtes Pastre – leben in Paris ... Die Alexandrinische Gesellschaft sah in Chariklia Kavafis die schönste Frau der Stadt. Einige Fotos aus jener Zeit zeigen sie – trotz der damals recht problematischen Art und Weise zu fotografieren – als eine wirklich sehr schöne Frau. Als die Familie nach Alexandria kam, war Said Pascha der Vizekönig von Ägypten. Sein Nachfolger wurde Ismail Pascha, der in Kairo einen „europäisierten Hof“ unterhielt, und bei allen Veranstaltungen machte der Vizekönig Chariklia Kavafis den Hof und bot ihr oft auch seinen Arm. Das Haus, das sie anfangs bewohnte, lag am Großen Platz. Dann zog sie um in ein Haus auf der Serif Pascha Straße, das 14 Zimmer hatte und wo sich die gute Gesellschaft Alexandrias traf. Jedes Jahr unternahm sie mit ihrem Ehemann Reisen nach Europa, und so besuchte sie die meisten Städte Italiens und Frankreichs. Sie besuchte auch Korfu und Malta. "Konstantin Kavafis“ aus: Konstantin Kavafis, Familie Kavafis, Dielmann Verlag, 2002 Kavafis’ Notate zu seiner Familiengeschichte offenbaren nicht nur eine in Deutschland bisher unbekannte Seite des Dichters, sondern auch viel von der psychischen Verfassung des Menschen Kavafis. Bezeichnend sind die innige Beziehung zu seiner Mutter, die distanzierte Sicht auf den Vater und die fast beschwörerische und charakteristische Feststellung: „Aber meine Familie stammt aus Byzanz“. Bezeichnend ist außerdem der Satz, er kenne die türkische Bedeutung seines Namens nicht. Einige Kavafologen haben daraus den Schluss gezogen, Kavafis hätte dies in einem Anflug von Eitelkeit behauptet, da Kavafis im Türkischen „Schuhmacher mit nur gering entwickelten Fähigkeiten“ bedeute und im allgemeineren Sprachgebrauch auch Synonym sei für „unreifer Mensch, der kaum von Bedeutung ist“. Charakteristisch sind auch die überschwänglichen Worte im Hinblick auf seinen Bruder, den „Erleuchteten“. Von all seinen Verwandten war dieser Bruder John derjenige, mit dem ihn die Liebe zur Literatur verband. John Kavafis veröffentlichte einen eigenen Gedichtband („Early Verses by John C. Cavafy“) und übersetzte viele Gedichte seines Bruders Konstantin ins Englische. Im Kavafis-Archiv finden sich neun Hefte mit diesen Übersetzungen, sowie ein Briefwechsel der beiden Brüder zur Problematik des Übersetzens. Außerdem unterstützte John seinen Bruder jahrelang finanziell. Von Asteris Kutulas
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ALEXANDROS KAROZAS
Gedanken zu Konstantin Kavafis I Der „Mythos“ Kavafis setzt sich aus folgenden Ingredienzien zusammen: 1. Konstantin Kavafis hat zeitlebens kein Buch veröffentlicht und nur 154 Gedichte als Opus hinterlassen, abgesehen von etwa zwanzig anderen, in seiner Jugend veröffentlichten lyrischen Texten, deren Autorenschaft er leugnete. 2. Einige stellten die These auf, dass Kavafis die griechische Literatur vor allem deshalb erneuern konnte, weil er niemals in Griechenland gelebt hat. 3. Kavafis war homosexuell und hat – was einige Kavafologen behaupten und andere bestreiten – darunter gelitten. Auch gibt es diesbezüglich die These, Kavafis sei nicht in Wirklichkeit homosexuell gewesen, sondern nur im Geiste usw. usf. 4. Kavafis war ein Dichter des introvertierten „geschlossenen Raums“, der „Bibliothek“, was im Gegensatz steht zur „Extrovertiertheit“ seiner griechischen Dichterkollegen. Das galt sowohl für den Ton als auch für die Thematik seiner Lyrik. Allerdings ist der wesentlichste Grund dafür, dass es diesen „Mythos“ Kavafis gibt, folgender: Kavafis war ein sehr guter Autor. Und obwohl Kavafis’ Beschränkung auf die bekannten 154 Gedichte tatsächlich Programm war und geholfen hat, des Autors eigentliche Intention deutlich zu machen, haben die in den letzten 60 Jahren nach und nach veröffentlichten Nachlass-Texte von Kavafis (die ich weiter unten anführe) den Ruhm des Autors und damit auch den Mythos „Kavafis“ nur noch mehr gefestigt. II Kurz vor seinem Tod bemerkte Kavafis: „Zwei Dinge hätte ich machen können: Gedichte und ein Geschichtsbuch. Das Geschichtsbuch habe ich nicht geschrieben, und nun ist es zu spät“. Der das sagte, hinterließ ein poetisches Werk, das – bestehend aus den oben bereits erwähnten 154 von ihm selbst veröffentlichten Gedichten – wie kaum ein anderes die griechische Moderne tief beeinflusst hat. Konstantin Kavafis, der als achtes Kind eines reichen Großhändlers am 29.April 1863 geboren wurde und auf den Tag genau siebzig Jahre später, am 29.April 1933, starb, brachte – in seiner Eigenschaft als Dichter K.P.Kavafis, wie er etwa seit seinem vierzigsten Lebensjahr an die Öffentlichkeit trat – einen neuen „sachlichen“ Ton in die griechische Lyrik ein. Zu einer Zeit des in Griechenland vorherrschenden Symbolismus mit den sprachgewaltigen Bildern eines Angelos Sikelianos (1884-1951) oder der blumigen Poesie des vom demotischen Lied tief beeinflussten Kostas Kristalis (1868-1894) oder den hehren Wortkaskaden des schon zu Lebzeiten als ein unantastbarer Klassiker verehrten Kostis Palamas (1859-1943), entwickelte Kavafis eine karge, epigrammatische Sprache, die Ausdruck einer prosaischen, da pessimistischen Weltsicht war. Kavafis sah in der Gegenwart den Schlusspunkt eines fatalen Geschichtsverlaufs: Der Niedergang des in seinen Strukturen verfaulten Hellenismus der vorchristlichen Zeit diente Kavafis als poetische Metapher für das im 19.Jahrhundert – nach vierhundertjähriger osmanischer Okkupation – krankgeborene moderne Griechentum. Seltsam genug: Kavafis tritt, nur wenige Jahrzehnte nach der Gründung des neugriechischen Staates im Jahre 1829, in seinen Gedichten als Chronist einer Endzeit auf. Und die „Trojaner“ eines jeden belagerten Troja, wie die im gleichnamigen Gedicht von 1900, tragen, obwohl noch im Kampf, das Wissen um ihre endgültige Vernichtung mit sich herum: „Aber das Verderben ist uns gewiss. / Dort oben, auf den Mauern stimmen sie schon die Totenklagen an.“ Kavafis studiert griechische, römische und byzantinische Geschichtsbücher und beschreibt in kurzen poetischen Skizzen – als würde sich dieser Prozess gerade vollziehen – den Untergang der Diadochenreiche Alexanders des Großen, den Sieg der Römer über die Griechen. Apokalyptische Bilder aus dem byzantinischen Reich. Für einen griechischen Intellektuellen um die Jahrhundertwende keine ungewöhnlichen Assoziationen, möchte man heute meinen. Doch dem war nicht so. Eher beherrschten die heroischen Taten der griechischen Stadtstaaten im Kampf gegen die Perser, so der Kampf des Spartanerkönigs Leonidas bei den Thermopylen, und die klassischen Meisterwerke, etwa die der drei Tragiker Euripides, Sophokles, Aischylos, die Bilderwelt der neugriechischen Literatur nach der Revolution von 1821. Fast alle Schriftsteller verstanden sich als geistige Verfechter der nationalen Wiedergeburt. Die Aussparung der klassischen Antike in seinen „historischen“ Gedichten, die das Gros seines poetisches Werkes ausmachen, ging bei Kavafis einher mit einer großen Wachheit für aktuelle Ereignisse und einem unnachgiebigen Skeptizismus: Die Gedichte „Krieger für den achäischen Bund“ (1922), „Die Schlacht von Magnesia“ (1913), „Zu Antiochos Epiphanes“ (1911) und viele andere beschwören den Untergang der Nation, sie „beginnen schon die Totenklagen“ im Augenblick der nationalen Euphorie. Kavafis schuf sein reifes Werk in einer Zeit großer kriegerischer Auseinandersetzungen, die von seinen Dichterkollegen stürmisch begrüßt bzw. patriotisch besungen wurden: 1897 der Kampf um Kreta und die Niederlage Griechenlands gegen die türkischen Truppen, 1903 bis 1908 die militärischen Operationen in Makedonien, 1909 die revolutionäre Bewegung auf Kreta, 1912 bis 1913 die Balkankriege, 1915 bis 1918 die Teilnahme Griechenlands am 1.Weltkrieg und schließlich 1922 die Kleinasiatische Katastrophe mit ihren verheerenden Folgen und dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei. Vielleicht half ihm die „Ferne“ Alexandriens, solche, in der griechischen Literatur unerhörten, Gedichte wie „Wartend auf die Barbaren“ (1904) zu schreiben oder folgende, im Heimatland kaum denkbare, Antinomie im Gedicht „Der Darios“ (1917) zu begründen: „Im Krieg – stell dir vor!, griechische Gedichte.“ Denn im griechischen Mutterland hätte man viel eher ausgerufen: „Im Krieg – jetzt erst recht!, griechische Gedichte.“ und sich vielleicht an die „Perser“ von Aischylos erinnert. So setzt Kavafis oftmals gegen den rhetorischen Wortschwall seiner griechischen Dichterkollegen die Lapidarität „historischer Kommentare“, eine Methode, die die distanzierte Haltung zum poetischen Geschehen in gesteigerter Intensität zum Ausdruck bringt, da jede emotionale Anteilnahme unterdrückt wird oder aber kurios wirkt. Giorgos Seferis (1900-1971), der erste griechische Literaturnobelpreisträger, nannte Kavafis in einem seiner vielen Essays über den „Alexandriner“ einen „proteischen Dichter“ – in Anlehnung an Proteus aus der antiken Sage, den alten Meergreis, der sich in verschiedene Wesen verwandeln konnte: Kavafis, der am liebsten Historiker hätte werden wollen, der durch diese Wendung nach innen, durch das intensive Er- Leben – ähnlich wie wir es bei dem bedeutenden argentinischen Schriftsteller J.L.Borges wahrnehmen – der aus Büchern erfahrenen Geschichte des Griechentums sich die Fähigkeit des Hineinschlüpfens in andere geschichtliche Persönlichkeiten, wirkliche und imaginäre, erworben hatte. Diese Kavafissche Methode, die Gegenwart durch die Brille der Vergangenheit zu betrachten und diese verfremdet, nämlich gewissermaßen als allzeit gültig zu beschreiben, bezeichnete Seferis in Anlehnung an den Dichter T.S.Eliot als „historischen Sinn“, der dem Dichter ermögliche, sich selbst und seine Epoche ins Gedicht mit einzubringen. Die Lakonie seiner Poetik übertrug Kavafis sehr konsequent auch auf seine Selbstdarstellung als Künstler. Folgende biographische Notiz gab er 1924 einer Athener Zeitschrift, die ihn dem griechischen Publikum vorstellen wollte: „Ich stamme aus Konstantinopel, wurde aber in Alexandria geboren – in einem Haus auf der Serif-Straße; bald danach verließ meine Familie diese Stadt, und ich verbrachte ein Gutteil meiner Kindheit in England. Dieses Land besuchte ich viel später noch einmal, doch nur für kurze Zeit. Wir haben auch in Frankreich gewohnt. In meiner Jugend lebte ich länger als zwei Jahre in Konstantinopel. In Griechenland bin ich schon sehr lange nicht mehr gewesen. In letzter Zeit arbeitete ich als Beamter im Büro des Ägyptischen Ministeriums für öffentliche Bauten. Ich spreche Englisch, Französisch und ein wenig Italienisch.“ III Folgende Editionen mit Texten von Konstantin Kavafis erschienen nach seinem Tod: - Prosa, also Essays, Buchkritiken, Notate, Erzählungen, Kolumnen – die meisten davon sind versammelt in drei Bänden („Unveröffentlichte Prosa“ 1963, „Prosa“ 1963, „Unveröffentlichte Notate“ 1983), viele andere kürzere Prosastücke wurden in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften publiziert. - „Unveröffentlichte Gedichte“ (1968): 78 von Kavafis vollendete und der Nachwelt willentlich hinterlassene Gedichte. - „Verworfene Gedichte“ (1983): 23 von Kavafis in seiner Jugend in Zeitschriften Alexandriens veröffentlichte und später verleugnete Texte. - „Notizen aus der Genealogie von Kavafis“ (1983): Texte zu seinen Vorfahren und seiner Familie (zusammengestellt und editiert von Vangelis Karajannis). - „Unfertige Gedichte“ (1996): 30 Gedichte, die mehr oder weniger ausgearbeitet waren und die von der Literaturwissenschaftlerin Renata Lavagnini rekonstruiert wurden. Bedeutend ist, dass sie fast ausschließlich aus dem letzten Jahrzehnt seines Schaffens stammen und dass es Texte sind, die Kavafis hatte unbedingt zu Ende schreiben wollen. Diese Editionen runden das Bild vom Dichter und Menschen Kavafis weitestgehend ab. Und Georgios Savidis, dem bedeutendsten Kavafologen zufolge, ist aus dem Archiv kaum etwas Neues in größerem Umfang zu erwarten. Ab jetzt bleibt es also dem Leser vorbehalten, sich sein eigenes Kavafis-Bild zu machen bzw. dem „Mythos“ Kavafis in seiner Unergründbarkeit nachzuspüren. Hier die auf deutsch veröffentlichten Texte aus dem Nachlass von Konstantin Kavafis: - Konstantin Kavafis. Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit. Notate zu Moral und Literatur, Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas; Hanser-Verlag, München 1991 - Konstantin Kavafis. Die vier Wände meines Zimmers, Verworfene und unveröffentlichte Gedichte, Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übertragen von Ina und Asteris Kutulas; Hanser-Verlag, München 1994 - Konstantin Kavafis, Familie Kavafis, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übertragen von Asteris und Ina Kutulas, Dielmann Verlag, Frankfurt am Main 2002 - Im Frühjahrsheft 2013 der Zeitschrift „die horen“ erscheint erstmals eine Auswahl aus den „Reisetagbüchern“ (1901) und den „Unfertigen Gedichten“ von Kavafis In meiner letzten Kavafis-Publikation „Familie Kavafis“ habe ich aus dem teilweise ungeordneten Material der Karajannis-Studie eine Auswahl getroffen und sie für eine deutsche Veröffentlichung in eine mir günstig scheinende Reihenfolge gebracht. Mir ging es darum, die Zeugnisse der wunderbaren Passion des Dichters – nach seinen Wurzeln zu suchen – dem Leser zugänglich zu machen. Hier daraus seine Ausführungen über seine Mutter: „Chariklia Fotiadis-Kavafis wurde 1835 in Genikioi geboren und heiratete mit 14 Jahren. Die ersten beiden Jahre ihrer Ehe verbrachte sie in Konstantinopel im Haus ihrer Schwiegermutter. Dieser Aufenthalt dort war für die junge Braut nicht sehr angenehm. 1852 zog sie zusammen mit ihrem Ehemann nach England. Zuvor wohnten die beiden aber längere Zeit in Paris, was die junge Frau sehr beeinflusste, die bis dahin nichts von der Welt gekannt hatte außer den Ort Peran. Sie und ihr Mann blieben einige Monate in London. In Liverpool wohnten sie dann in der Bedford Street. Sie lebten ruhig und zurückgezogen, keinesfalls entsprechend den Bedürfnissen einer 18jährigen. Chariklia schloss nur wenige Bekanntschaften, wovon die engsten die mit Frau Skilitsis und Frau Rallis waren. Petros Ioanis engagierte Lehrer für seine Frau, die Französisch, Englisch und Zeichnen lernte. 1854 oder 1855 ging sie mit ihrem Ehemann nach Alexandria, eine Stadt, die sich gerade zu entwickeln begann. Es gab erst wenige Europäer dort. Die griechische Gemeinde war damals schon die größte, und sie ist es noch heute. Damals zählte sie noch keine 3.000 Mitglieder. Jetzt, 1903, hat sie mehr als 30.000. Das Leben der Stadt konzentrierte sich in der Gegend um den Großen Platz... In Alexandria ging es recht munter zu, zumal die meisten Neuankömmlinge erfolgreiche Börsianer und Händler waren. Tanzveranstaltungen und Bankette waren an der Tagesordnung. Chariklia Kavafis hatte ihren Einstand auf dem großen Ball von Herrn Pastres ... Die Abkömmlinge dieser Familie – jetzt Comtes Pastre – leben in Paris ... Die Alexandrinische Gesellschaft sah in Chariklia Kavafis die schönste Frau der Stadt. Einige Fotos aus jener Zeit zeigen sie – trotz der damals recht problematischen Art und Weise zu fotografieren – als eine wirklich sehr schöne Frau. Als die Familie nach Alexandria kam, war Said Pascha der Vizekönig von Ägypten. Sein Nachfolger wurde Ismail Pascha, der in Kairo einen „europäisierten Hof“ unterhielt, und bei allen Veranstaltungen machte der Vizekönig Chariklia Kavafis den Hof und bot ihr oft auch seinen Arm. Das Haus, das sie anfangs bewohnte, lag am Großen Platz. Dann zog sie um in ein Haus auf der Serif Pascha Straße, das 14 Zimmer hatte und wo sich die gute Gesellschaft Alexandrias traf. Jedes Jahr unternahm sie mit ihrem Ehemann Reisen nach Europa, und so besuchte sie die meisten Städte Italiens und Frankreichs. Sie besuchte auch Korfu und Malta. "Konstantin Kavafis“ aus: Konstantin Kavafis, Familie Kavafis, Dielmann Verlag, 2002 Kavafis’ Notate zu seiner Familiengeschichte offenbaren nicht nur eine in Deutschland bisher unbekannte Seite des Dichters, sondern auch viel von der psychischen Verfassung des Menschen Kavafis. Bezeichnend sind die innige Beziehung zu seiner Mutter, die distanzierte Sicht auf den Vater und die fast beschwörerische und charakteristische Feststellung: „Aber meine Familie stammt aus Byzanz“. Bezeichnend ist außerdem der Satz, er kenne die türkische Bedeutung seines Namens nicht. Einige Kavafologen haben daraus den Schluss gezogen, Kavafis hätte dies in einem Anflug von Eitelkeit behauptet, da Kavafis im Türkischen „Schuhmacher mit nur gering entwickelten Fähigkeiten“ bedeute und im allgemeineren Sprachgebrauch auch Synonym sei für „unreifer Mensch, der kaum von Bedeutung ist“. Charakteristisch sind auch die überschwänglichen Worte im Hinblick auf seinen Bruder, den „Erleuchteten“. Von all seinen Verwandten war dieser Bruder John derjenige, mit dem ihn die Liebe zur Literatur verband. John Kavafis veröffentlichte einen eigenen Gedichtband („Early Verses by John C. Cavafy“) und übersetzte viele Gedichte seines Bruders Konstantin ins Englische. Im Kavafis-Archiv finden sich neun Hefte mit diesen Übersetzungen, sowie ein Briefwechsel der beiden Brüder zur Problematik des Übersetzens. Außerdem unterstützte John seinen Bruder jahrelang finanziell. Von Asteris Kutulas
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